Wenn Eltern eine Depression oder eine Angststörung haben, leiden auch die Kinder. Wie Eltern,
Grosseltern und Paten Kinder psychisch kranker Eltern auffangen können, weiss die Fachpsychologin für
Psychotherapie, Joëlle Gut - Lützelschwab aus Biel.
Statistiken zufolge durchlebt rund jeder dritte bis vierte Mensch im Verlauf seines Lebens eine
ernsthafte psychische Krise. Wie lässt sich unterscheiden, ob psychische Probleme noch normal
sind oder ob eine ernsthafte Erkrankung wie eine Depression oder eine Angststörung vorliegt?
Eine psychische Störung führt zu subjektivem Leiden oder zu
Einschränkungen im Leben, zum Beispiel in sozialen Beziehungen oder beruflicher Leistungsfähigkeit. Kurz
zusammengefasst lässt sich sagen, dass eine psychische Störung dann vorliegt, wenn der Alltag nicht
mehr bewältigt werden kann. Die Kinder werden zum Beispiel nicht in die Schule geschickt, Post bleibt
unbeantwortet liegen. Psychisch krank ist ein Mensch auch dann, wenn er sich selber oder sein Umfeld
gefährdet, weil er sich zum Beispiel völlig unterernährt oder sich das Leben nehmen möchte.
Oftmals haben die erkrankten Menschen Kinder, umdie sie sich kümmern müssen. Welche Folgen
kann die psychische Erkrankung eines Elternteils auf die Kinder haben?
Kinder psychisch kranker Eltern sind grundsätzlich für psychische Krankheiten anfälliger als andere. Zum
einen sind sie einem höheren Risiko ausgesetzt, vom erkrankten Elternteil vernachlässigt oder körperlich
und/oder psychisch misshandelt zu werden. Zum anderen haben viele psychische Krankheiten eine
genetische Komponente. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst psychisch erkranken, liegt Vermutungen
von Experten zufolge zwei bis sogar drei Mal höher als bei Kindern psychisch gesunder Eltern. Oft fühlen
sich die betroffenen Kinder schuldig, sie glauben, für die Erkrankung der Mutter oder des Vaters
verantwortlich zu sein. Andere leiden unter der emotionalen Unerreichbarkeit des psychisch kranken
Elternteils.
Wie verändert sich der Alltag für Kinder psychisch kranker Eltern?
Einkauf erledigen, zu jüngeren Kindern schauen, kochen - in den meisten Fällen übernehmen die Kinder
nach und nach diese täglichen Aufgaben und teils sogar die Rolle des erkrankten Elternteils, da niemand
sonst sich dafür verantwortlich fühlt. Im Fachjargon heisst das «Parentifizierung».
Unter welchen konkreten Alltagssituationen leiden Kinder psychisch kranker Eltern besonders?
In der Therapie hören wir oft, was Kinder psychisch kranker Eltern besonders belastet. Sie fühlen sich
isoliert, wenn sie im Kindergarten nie einen Znüni dabei haben oder keine Freunde mit nach Hause nehmen
dürfen, weil sie dem psychisch erkrankten Elternteil zu viel sind. Tatsächlich ist soziale Isolation neben
Beziehungsproblemen, Scheidung, Arbeitslosigkeit und Geldnot eine häufige Folge der psychischen
Erkrankung. Das Schwierigste ist, dass der Alltag so unberechenbar ist. Das Kind weiss nie, wie es dem
erkrankten Elternteil geht. Es hofft beim Aufwachen stets, dass dieser Tag ein sogenannter «guter Tag» ist,
an dem die Mutter oder der Vater gute Laune hat und sich zuverlässig um seine Bedürfnisse kümmern
kann.
Was brauchen Kinder psychisch kranker Eltern besonders?
Kinder, die in so schwierigen Umständen aufwachsen, brauchen – neben dem psychisch erkrankten
Elternteil - eine Betreuungs- oder Bezugsperson, die Stabilität verkörpert. So haben sie jemanden, mit dem
sie Ängste, Schuldgefühle und Unsicherheiten besprechen können. Das kann zum Beispiel der Elternteil
sein, der nicht erkrankt ist.
Was kann der gesunde Elternteil für das Kind tun?
Vor allem ist es wichtig, für das Kind einfach da zu sein, ihm Verlässlichkeit und Sicherheit zu bieten und
seine Fragen zur Krankheit zu beantworten. Das Kind sollte wissen, welche Krankheit Mami oder Papi hat,
weshalb sie bzw. er anders als früher reagiert. Vor allem sollte dem Kind klar werden, dass es selbst in
keinem Zusammenhang mit der Krankheit steht! Es wäre gut, wenn der nichtbetroffene Elternteil einen
grösseren Anteil der Betreuung übernehmen würde. So könnte er beobachten, ob das Kind sich
zurückzieht, Schlafstörungen hat oder zu Wutausbrüchen neigt. All das können Indizien für einen
seelischen Schmerz oder einen Hilferuf sein, die einen Besuch beim Kinderpsychologen sinnvoll machen.
Wie können andere Menschen im Umfeld, zum Beispiel Paten, helfen?
Sie können viel Zeit mit dem Kind verbringen, es aus dem Umfeld rausholen, um bei sich zu Hause einen
Nachmittag lang zu spielen oder gemeinsam Ferien zu machen. Sie können auch ein offenes Ohr für das
Kind haben und sich nach Möglichkeit an der Betreuung und der Haushaltung beteiligen.
Gibt es etwas, was die Mutter oder der Vater trotz ihrer Depression oder Angstzustände selbst tun
können, umihren Kindern die Situation zu erleichtern?
Wenn ein Elternteil merkt, dass es ihm nicht gut geht, sollte er sich möglichst bald Hilfe holen. Nicht selten
ist der Hausarzt erster Ansprechpartner. Immer öfter melden sich betroffenen Eltern aber auch direkt in der
Psychotherapeutischen Praxis. Wenn die psychischen Symptome noch nicht über Monate andauern, lässt
sich aus einer Mischung verschiedener Therapien und Lösungsansätze wie Psychotherapie, manchmal
Medikamenten und häuslicher Entlastung die Situation effektiv verbessern.
Brauchen Kinder auch fachkundige Hilfe?
Ja, das kann notwendig sein. Je nach Erkrankungsgrad und Krankheitsverlauf muss das Kind nicht nur in
einem ambulanten Setting betreut, sondern sogar umplatziert werden, also in einer anderen Familie oder
Einrichtung untergebracht werden.
Welche Institutionen fangen betroffene Kinder auf?
Noch vor wenigen Jahren standen Kinder psychisch krankter Eltern noch wenig in der Aufmerksamkeit. Die
Tatsache, dass das Zusammenleben mit einem psychisch erkrankten Elternteil ein beträchtliches Risiko für
einen ungünstigen Entwicklungsverlauf des Kindes darstellt, rückte erst durch verschiedene Studien wie die
Winterthurer-Studie aus dem Jahr 2006 in den Focus der Fachwelt. Bestrebungen laufen, Beratungsstellen
und Kliniken diesbezüglich zu sensibilisieren. Sind Kinder stark betroffen, wird versucht, sie bei bereits
vorhandenen Bezugspersonen unterzubringen. Ansonsten sind je nach Situation sozialpädagogische
Grossfamilien, Pflegefamilien oder eine andere Institutionen Anlaufstelle.
Wie lange dauern psychische Krankheiten in der Regel?
Die Dauer der psychischen Erkrankung ist ganz unterschiedlich und hängt von vielen Faktoren ab. So
kommt es darauf an, um welche Störung es sich handelt und wie stark sie ausgeprägt ist. Eine Psychose
zum Beispiel ist schwerer behandelbar als eine spezifische Angststörung. Ein wesentlicher Punkt ist auch,
ob und zu welchem Zeitpunkt sich die Betroffenen Hilfe suchen. Bei nahezu allen psychischen
Erkrankungen ist die Psychotherapie ein zentraler, in seiner Wirksamkeit gut belegter Behandlungsansatz.
Je nach Art und Schwere einer psychischen Erkrankung kann zusätzlich eine Behandlung mit Arzneimitteln
sinnvoll oder erforderlich sein.
Quelle: «familienleben» / Text: Sigrid Schulze im Januar 2016