Praxis für systemische

Therapie und Beratung

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Was heisst schon Sünde?

Wir haben Berufsleuten, welche regelmässig mit «Sündern» zusammentreffen, die folgenden zwei Fragen gestellt: «Was ist für Sie Sünde?» und «In welcher Form begegnet Ihnen Sünde im Beruf?»

Rebekka Brüllhardt, lic. phil. Psychologin (28)
1) Ergänzend zum religiösen Verständnis empfinde ich Sünde ganz allgemein als Verstoss gegen die moralischen Regeln und Wertvorstellungen unserer Gesellschaft. Der Mensch sündigt, weil er nicht perfekt ist und auch nicht perfekt sein kann, egal, wie sehr er sich anstrengt.
2) Im Berufsleben sündigen wir immer wieder. Dies kann ein Chef sein, der seine Machtposition gegenüber dem ihm unterstellten Personal ausnutzt, oder eine Gruppe von Mitarbeitenden, welche jemanden systematisch fertigmacht und aus dem Team ausschliesst.

Andrea Blumer-Schwyter, Physiotherapeutin mit Zusatzausbildung in Sportphysiotherapie (42)
1) In meinem Alltag gehe ich sehr vorsichtig mit diesem Begriff um. Ich erlaube mir nicht, zu urteilen, was nun eine Sünde ist. Den Begriff reihe ich als Fehlverhalten im religiösen Verständnis (Christentum, Islam, Judentum) zu Gut und Böse ein.
2) Sind kleine Verfehlungen kleine Sünden? Entsprechen grössere Delikte grossen Sünden? Nach meinem Verständnis nicht. Also würde ich sagen, dass ich in meinem beruflichen Alltag, mit meinem persönlichen Verständnis von Sünde, kaum Sündern begegne. Im religiösen Begriffsverständnis sind wir mit unserer menschlichen Unvollkommenheit alle Sünder. Dann wären es die üblichen Schattenseiten, die uns immer wieder begleiten; zum Beispiel Respektlosigkeit, erzählen von kleinen Unwahrheiten, rücksichtsloses Verhalten etc. — ja, ich begegne ständig Sündern und leider gehöre ich selber dazu.

Alfred Oberli, Security (47)
1) Sünde ist alles, was das Zusammenleben behindert, zum Beispiel die Missgunst. Als Leitsatz dienen ja die zehn Gebote. Am problematischsten ist die Lüge: Jeder lügt, jeder braucht hin und Was heisst schon Sünde? wieder eine sogenannte Notlüge.
2) In meinem Job muss man aufs Gefühl vertrauen. Wenn die Fakten und das Gefühl stimmen, besteht Handlungsbedarf. Wenn ich aber nicht sicher bin, darf ich niemanden zu Unrecht beschuldigen. Ich versuche immer, problematische Situationen zu reflektieren; manchmal ist das unangenehm, weil ich merke, dass ich übertrieben reagiert habe. Was man oft erlebt, ist Diskriminierung: Einige meiner Angestellten stammen aus dem Balkan und sind öfters mit Anfeindungen konfrontiert. Auch das ist eine Sünde. Eine der grössten Sünden ist Unehrlichkeit in der Partnerschaft. Ich bekomme da einiges mit, das ich lieber nicht wissen möchte.

Joëlle Gut, Psychotherapeutin FSP, Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie FSP, dipl. Paartherapeutin (34)
1) Sünde ist ein Begriff, der innerhalb des Psychotherapeutenfachjargons nicht mehr existent ist. Ich verstehe das Wort Sünde im klassischen Sinne als einen «Verstoss gegen Gottes Willen». Also als eine Verfehlung vor den Augen Gottes und daher auch vor seinen Vertretern auf Erden: den Pfarrern und Pfarrerinnen, den Strenggläubigen, den regelmässigen Kirchengängern/-innen etc.
2) Als Psychotherapeutin mit Spezialgebiet der Paar- und Sexualtherapie begegne ich dem Wort Sünde meist im Gespräch mit älteren (religiösen) Klienten. Dies im Zusammenhang mit vorhandenen eigenen sexuellen Wünschen, die als sündig erlebt werden, weil sie vom Ehepartner / von der Ehepartnerin nicht geteilt werden können. Als Krönung der Sünde wird der Seitensprung betrachtet.

Peter Urech, Gerichtspräsident (56)
1) Sünde ist ursprünglich ein religiöser Begriff. Für mich hat dieser Begriff eine ambivalente Bedeutung: Einerseits ist er Ausdruck von etwas Verbotenem, andererseits haftet ihm etwas Verführerisches, etwas Reizvolles an.
2) Dieser Ambivalenz begegne ich auch in meiner Funktion als Strafrichter. Gesetzesbrüche sind verboten und daher mittels Urteil zu ahnden. Gesetzesverletzungen sind — psychologisch gesehen — auch immer Grenzüberschreitungen, die zuweilen (je nach Ausgestaltung des einzelnen Falles) auch ein gewisses Faszinosum ausüben können.

Markus Christen, Ethiker und Journalist (41)
1) Sünden sind Verstösse gegen Gottes moralische Gesetze — also sind Sünder Rebellen gegen Gott. Keine unsympathischen Gesellen, meine ich. Bezeichnend ist, dass in der menschengemachten Ethik die böse Tat nicht Sünde heisst. Die Sünde ist heute deshalb vor allem jene Tat, bei der wir vielleicht eine ethische Ausrede haben - aber irgendwie klopft das schlechte Gewissen halt doch an. So sind Sünden jener Teil des Bösen in uns, mit dem wir uns irgendwie arrangieren müssen, während die wirklich böse Tat verboten bleibt.
2) Lässliche Sünden kommen wohl immer wieder vor — bei mir und bei anderen. Also flunkern, übertreiben, mehr versprechen, als man halten kann, und solche Dinge. Wie überall ist es eine Frage des Masses, wie man damit umgeht. Viele kleine oder auch wenige grosse Sünden führen irgendwann dazu, dass man mit dem Sünder dann nicht mehr weiter zusammenarbeiten will. Doch das kennt wohl jeder ...

Quelle: «casanova-sanitas troesch» / Im November 2010



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