Geschwister Prägt die Position der Geschwister den Charakter? Nicht unbedingt, sagen Psychologen. Zahlreiche andere Faktoren
wirken sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit aus.
Denken wir an Geschwister, kommen oft Erinnerungen an früher hoch: an den älteren Bruder, der sich kleine Freiheiten erkämpfen
musste, an die kleine Schwester, die stets eine Sonderbehandlung erfuhr, an heftige Streitereien, an innige Momente. Mag sein, dass wir uns dann
fragen: Welche Rolle spielten sie für mein Leben? Welchen Einfluss haben wir aufeinander ausgeübt?
«Geschwisterbeziehungen sind die
dauerhaftesten Bindungen im Leben eines Menschen: Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf, aber Geschwister bleiben
einem Menschen meist lebenslänglich erhalten», schreibt der Zürcher Psychologe Jürg Frick in seinem Buch «Ich mag dich – du nervst mich!».
Sie wirkten sich auf unsere Denk- und Gefühlswelt weit mehr aus als vielfach angenommen. Wenn dem so ist: Inwiefern beeinflusst dann der
Geburtenrangplatz die Persönlichkeit des einzelnen Menschen?
Geschwisterposition
Älteren und jüngeren Geschwistern werden ebenso wie Einzelkindern oftmals bestimmte Charaktereigenschaften zugewiesen.
«Einzelkinder können nicht teilen», «Erstgeborene sind ernst und vernünftig», «Mittelkinder sind diplomatisch», «Nesthäkchen brauchen besonders
viel Aufmerksamkeit» – so lauten gängige Vorurteile. Doch was ist an diesen dran?
«Weil Geschwisterbeziehungen so komplex und dynamisch sind,
ist es schwierig, allgemeingültige Aussagen über den Geburtenrangplatz und Charaktereigenschaften zu machen», sagt Joëlle Gut, Psychotherapeutin
FSP und Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie, mit eigener Praxis in Biel,Bern und Solothurn. Ihre Aussage deckt sich mit den
aktuellen Ansätzen der Geschwisterforschung. Denn: Anders als die traditionelle Geschwisterforschung, die von einem einfachen Zusammenhang zwischen
Geburtenrangplatz und Persönlichkeit ausging, vertreten heutige Wissenschaftler die Ansicht, dass der Geburtenrangplatz, ohne Berücksichtigung von
sozialen, ökologischen und individuellen Faktoren, keine Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen geben kann. Entscheidend sei vielmehr
die «individuelle Geschwisterposition», erklärt Joelle Gut.
Ein Kind kann etwa das älteste von einem oder mehreren jüngeren Geschwistern
sein, es kann als letztes von mehreren Kindern aufwachsen, eine Mittelstellung einnehmen oder Einzelkind sein. Es kann eine Behinderung haben, nur
mit einem Elternteil oder in einer Patchworkfamilie aufwachsen. Die Geschwisterposition stellt immer nur einen Faktor dar, daneben spielen auch
Geschlecht, Altersabstand, Anzahl und kultureller Hintergrund der Geschwister eine Rolle.
Persönliche Perspektive
Aus einem kleinen Altersabstand etwa resultiere oft eine enge emotionale Bindung zwischen den Geschwistern, erklärt Joëlle Gut.
Da der Entwicklungsstand bei beiden ähnlich sei, harmonierten sie als Spielkameraden, es könne aber auch zu Rivalitäten und Streitigkeiten kommen.
Anders bei einem grösseren Abstand: «Da sind die Interessen unterschiedlich, emotionale und kognitive Reifung liegen weit auseinander; es gibt weniger
Rivalitäten, da keine direkten Vergleichsmöglichkeiten vorhanden sind», sagt Gut. In Bezug auf die Geschwisterzahl hält die Psychotherapeutin fest:
«Mehrere Geschwister müssen sich die Aufmerksamkeit der Eltern – im Gegensatz zu Einzelkindern – teilen; die stilleren, angepassten Kinder können
deshalb emotional etwas untergehen, weil sie einfach mitlaufen».
Einflussreiche Konflikte
Bei Grossfamilien wiederum organisierten sich die Geschwister häufig untereinander, wobei sich die Grossen um die Kleinen kümmerten.
Je grösser die Geschwisterzahl, desto weniger würden die Kinder als Individuen mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen. Eine wichtige Rolle spiele
auch, wie das Familienleben von den Kindern generell erlebt werde, sagt Gut. Ein konfliktreiches Umfeld etwa könne die Persönlichkeit weit mehr
beeinflussen als der Altersabstand.
Das bestätigt auch Jürg Frick: «Die ganz persönliche Perspektive des Kindes ist der Schlüssel zum Verständnis
seines Fühlens, Denkens und Handelns», schreibt er. Jedes Kind erlebt und verarbeitet seine individuelle Geschwisterposition anders. Doch auch wenn
feststeht, dass der Geburtenrangplatz nicht automatisch zur Ausprägung gewisser Charaktereigenschaften führt, machen bestimmte
Geschwisterkonstellationen entsprechende Verhaltensweisen wahrscheinlicher, darin sind sich die Fachpersonen einig. Erstgeborene etwa werden laut
Joëlle Gut durch die Geburt eines zweiten Kindes «entthront»: «Sie sind gezwungen, die geringere Aufmerksamkeit, die verkürzte Zeit und die
Prioritätensetzung der Eltern zu akzeptieren». Dies könne zu Eifersucht und vermehrter Aufmerksamkeitssuche führen. Ausserdem hätten Erstgeborene in
den ersten Lebensjahren nur Erwachsene als Vorbilder, weshalb sie ihre Ziele oft zu hoch steck-ten.
Für Mittelkinder hingegen gestalte sich das
Lernen oft einfacher, weil sie von den älteren Geschwistern vieles gehört und miterlebt haben. Dies könne jedoch dazu führen, dass sich die Kleinen
ständig mit den Grossen vergleichen und Wettkampfgedanken hegen. Die jüngsten Kinder wiederum seien die einzigen, die in der Geschwisterfolge nicht
«entthront» würden. «Möglicherweise sind sie verwöhnt, weil sie oft sehr umsorgt werden von den Eltern wie den älteren Geschwistern», sagt Gut,
«das kann zu mangelnder Selbständigkeit führen – es muss aber nicht; manchmal sind die Nesthäkchen auch sehr motiviert, neue Entwicklungsschritte
zu machen, den andern nachzueifern.»
Optimal unterstützen
also generell als günstig oder nachteilig eingestuft werden, jede birgt je nach individueller Situation Vor und Nachteile. Was
heisst das für die Eltern? «Sie müssen sich fragen, wie sie ihre Kinder mit verschiedenen charakterlichen Eigenarten, Begabungen und
Schwierigkeitenoptimalunterstützen können», rät Gut. Einem älteren Kind etwa, das eifersüchtig sei, könne man exklusive Zeit einräumen, wenn
das kleinere schlafe. Ein jüngeres wiederum dürfe man neue Dinge ausprobieren lassen, die die grossen Geschwister erst später durften.
Quelle: Bieler Tagblatt / Autorin: Michelle Schwarzenbach 28 Februar 2013